Die Wanderung über die Alpen zur Arbeit nach Deutschland hat in Italien eine lange Tradition. Nach Frankreich, Österreich und der Schweiz wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch Deutschland mehr und mehr das Ziel vieler Wanderarbeiter aus Italien. Ursache für die verstärkte Auswanderung war eine zunehmende Verarmung der Kleinbauern und Tagelöhner in Norditalien, besonders im Veneto. Zeitgleich wuchs die Bevölkerung sehr stark an, so dass das Land nun mehr Personen ernähren musste. Gleichzeitig verdrängten billige Industrieprodukte das traditionelle Handwerk. Als dazu gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch noch die Steuern wegen der hohen Staatsausgaben stiegen, konnte die Landbevölkerung ihren Lebensunterhalt kaum mehr bestreiten. So zog es viele Norditaliener nach Europa und Übersee. Doch nicht nur der blanke Hunger, auch die Aussicht auf ein besseres Leben trieb die Italiener zur kurzfristigen Auswanderung ins nahe gelegene Deutschland: | ||
Mit der Bahn in den Norden | ||
Mit dem Bau der Eisenbahnlinien über die Alpen rückte das Ziel Deutschland näher. 1867 konnte die Brennerbahn als erste direkte Verbindung zwischen Deutschland und Italien eröffnet werden. Damit war eine wichtige Voraussetzung für die massenhafte Wanderung italienischer Arbeiter nach Deutschland geschaffen. In den 1880er Jahren stieg die Zahl der italienischen Auswanderer nach Deutschland sprunghaft an. Mit der Fertigstellung des Gotthardtunnels 1882 und der Lötschbergbahn 1921 gingen weitere wichtige Eisenbahnlinien in Betrieb, die die Wanderung über die Alpen nach Deutschland wesentlich erleichterten. Die Italiener reisten meist in Gruppen zur Arbeit nach Deutschland. Das entsprach einerseits der langen Tradition, in geschlossenen Verbänden aus einem Dorf oder einem Tal auf Wanderschaft zu gehen. Zum anderen gewährte die italienische Bahn für Gruppen 50 % Nachlass auf den Fahrpreis. So kostete die Fahrt von Mailand nach Duisburg 28 Lire, was dem Wochenlohn eines ungelernten Arbeiters entsprach. Die Fahrzeit von Norditalien ins Ruhrgebiet betrug zwischen 48 und 60 Stunden. Die Eisenbahngesellschaften richteten notdürftige Sammelpunkte und Unterkünfte für die Durchreisenden ein und transportierten die Wanderarbeiter in speziellen „Italienerzügen“. | ||
Fern der Heimat | ||
„[...] 19. April 1912 Die königliche Auswanderungsbehörde in Mailand hat die Mitteilung erhalten, dass zahlreiche und inständige Anfragen der arbeitslosen Arbeiter an die königlichen Konsulate gestellt wurden, in denen diese um eine kostenlose Heimreise baten. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit waren viele italienische Arbeiter zu früh nach Deutschland und in die Schweiz ausgewandert, lange bevor dort die Arbeitssaison begonnen hatte. [...] |
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[...] 26. April 1912 Die königliche Auswanderungsbehörde in Mailand teilt mit, dass die allgemeine Arbeitssituation in Europa, für die Bereiche Bau, Zement und Erdaushub stark rückläufig ist, und zu einer beträchtlichen Arbeitslosigkeit nicht nur bei den Italienern führt, sondern auch bei den einheimischen Arbeitern. Diese Arbeitslosigkeit macht sich besonders stark in den Städten Berlin, Köln, Zürich, Basel, St. Gallen etc. bemerkbar. [...] Es wird davon abgeraten, als Arbeiter im Baubereich sowie für Aushubarbeiten speziell in die Schweiz und nach Deutschland zu emigrieren, es sei denn, man habe schon vor der Abreise einen abgesicherten Arbeitsvertrag abgeschlossen. [...] “ |
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Hinweise in der Rubrik „ Mitteilungen, Ratschläge und Informationen“ der italienischsprachigen Zeitung für Emigranten „Operaio italiano“ |
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Mit den neuen Eisenbahnverbindungen rückte das ferne Deutschland zwar etwas näher. Trotzdem bedeutete für viele Italiener die Fahrt nach Deutschland eine Reise ins Ungewisse. Informationen über Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland waren oft vage. Die hygienischen Verhältnisse in den Unterkünften und Zügen waren äußerst schlecht. Zudem mischten sich unter die Arbeitssuchenden oft Kriminelle, die auf Bargeld und Ausweispapiere aus waren. So endeten manche Reisen noch in Italien. Hoffnung und Trost spendete die Kirche, die die Arbeitsmigration mit dem biblischen Exodus nach Ägypten verglich. Die katholische Hilfsorganisation „Opera di assistenza“ wie auch die sozialistisch ausgerichtete „Societá Umanitaria“ kümmerten sich an den Durchgangsbahnhöfen um die Reisenden und boten ihnen Hilfe an. Die „Opera di assistenza“ betrieb schließlich auch in den Zielorten Arbeitersekretariate, die die italienischen Arbeitsmigranten betreuten. Die in der Heimat verbliebenen Familien hofften auf eine gesunde und erfolgreiche Rückkehr der Migranten. Zwischen Hoffen und Bangen schwang oft die Furcht der Frauen mit, von ihren Männern zurückgelassen und vergessen zu werden. | ||
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Dietmar Osses, Bochum 2005 Literatur zum Thema: |