Das Gebiet entlang der Ruhr zeigte zu Beginn des 19. Jahrhunderts
ein abwechslungsreiches Bild: während im ländlichen Ruhrtal
Eisenhämmer und kleine Zechen emsig ihr Werk verrichteten, war die
mittlere Zone der Region vom Hellweg geprägt, der die mittelalterlichen
Städte Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund verband. Weiter nördlich
zeigte sich die Region als weitgehend unberührte, idyllische Natur,
als Heidelandschaft mit frei laufenden Wildpferdherden im Emscherbruch.
Um 1850 änderte sich das Bild in rasendem Tempo. Im Zuge der Industrialisierung übersäten binnen weniger Jahre Zechen, Kokereien, Eisenhütten und Stahlwerke das Land. Eisenbahnlinien und Kanäle verbanden die Betriebe und beschleunigten den Warenverkehr. In der Nähe der Werke gruppierten sich Wohnsiedlungen, Kirchen, Geschäfte und Gaststätten. Die Entwicklung der Region folgte in erster Linie den Bedürfnissen der Industrie. Sie bestimmte Tempo und Ausmaß des Wachstums. Mensch und Natur mussten sich unterordnen. Bergbau und Industrie verwandelten das mittlere Ruhrgebiet entlang des Hellwegs in den 1880er Jahren in eine pulsierende Industrielandschaft, in der sich die Stadtgrenzen verwischten und Wohnhäuser im Schatten der Schlote und Fördertürme standen. In die nördlichen Gebiete des Ruhrgebiets drang der Bergbau erst gegen Ende des Jahrhunderts vor, da hier die Kohleschichten tiefer lagen und die Förderung aufwändig war. Allerdings war das Land kaum besiedelt, so dass hier Zechen und Bergarbeitersiedlungen noch ausreichend Platz zur Entfaltung hatten. Es bildeten sich zahlreiche Industriedörfer mit jeweils Zehntausenden von Einwohnern. Viele Bergwerksgesellschaften legten hier attraktive Bergarbeiterkolonien mit Zwei- bis Vierfamilienhäusern, ausgedehnten Nutzgärten und Kleintierställen an, die den Bedürfnissen der meist aus ländlichen Regionen zuziehenden Bergleute entgegen kommen sollten. Das Ruhrgebiet lockte mit seinem explosionsartigen Wachstum Millionen von Menschen mit der Aussicht auf gutes Geld für harte Arbeit. Zwischen 1852 und 1925 vervielfachte sich die Bevölkerung im Revier von ca. 375.000 auf über 3,7 Millionen Menschen. Die meisten von ihnen kamen aus ländlichen Regionen, zunächst aus der unmittelbaren Nachbarschaft, dann aus den angrenzenden deutschen Ländern, schließlich auch aus dem Ausland. |
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Hoher Arbeitskräftebedarf | ||
Für den Ausbau des immer rascher wachsenden Ruhrgebiets
wurde eine große Anzahl an gut ausgebildeten Arbeitern benötigt,
die aus dem eigenen Land bei weitem nicht mehr beschafft werden konnten.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren vor allem qualifizierte
Arbeiter für den Bau von Eisenbahnen, Tunnels und Kanälen gefragt. Gegen Ende des Jahrhunderts hatte das Revier endgültig technologisch aufgeholt. Nun suchten Bergbau, Industrie und Baugewerbe im Ausland nicht mehr Experten mit Fachwissen, sondern vor allem Massen von einfachen Arbeitern für körperliche Arbeiten. Besonders in den Ostprovinzen des Deutschen Reiches, Posen, Ost- und Westpreußen sowie Schlesien, warben Agenten Auswanderer für das Ruhrgebiet an. Um 1910 lebten rund 100.000 Italiener im Ruhrgebiet, deren Anzahl je nach Saison jedoch um weitere 50.000 schwanken konnte. Sie bildeten nach den über 400.000 meist polnischen Zuwanderern die zweitgrößte Gruppe von Ausländern im Ruhrgebiet. Die Nachfrage nach Arbeitskräften blieb anhaltend hoch. Andererseits wuchsen aber auch die sozialen und politischen Spannungen im Ruhrgebiet. In die aufkeimende Diskussion um die Arbeiterfrage mischten sich mehr und mehr nationalistische und rassistische Züge. So wurden den Deutschen und den Angehörigen anderer Nationen unterschiedliche „Kulturstufen“ zugeschrieben. Dabei standen die Deutschen an der Spitze der Entwicklung, die Polen am Ende. Den Italienern wurde eine mittlere Stufe zugeschrieben: |
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„[...] In der Verwendbarkeit des Italieners und des Polens
besteht ein in der Rasse begründeter wesentlicher Unterscheid, der durch
Verschiebungen in den letzten Jahren zum Ausdruck kommt. Der Italiener,
frühreif und intelligent, zieht sich allmählich aus den Betrieben zurück,
in denen nur an seine physische Kraft Ansprüche gestellt werden, und wendet
sich den Stellen zu, in denen Handfertigkeit und Tüchtigkeit erforderlich
ist; Fleiß und Nüchternheit berechtigen ihn hierzu. [...] Wo man billige
Arbeitskräfte nötig zu haben glaubt, verdrängt der Pole den Italiener,
dessen Leistungsfähigkeit im Allgemeinen der des deutschen Arbeiters gleichkommt.
[...]“ Jahresbericht des Großherzoglich Badischen Gewerbeaufsichtsamtes 1911, Seite 33 |
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Italienische Saisonarbeiter im Ruhrgebiet | ||
Im Ruhrgebiet arbeiteten die meisten Italiener als Erd-
und Gesteinsarbeiter in Steinbrüchen oder Bergwerken, andere im Kanal-
und Eisenbahnbau, in Ziegeleien oder im Straßen- und Wohnungsbau.
Ein besonderes Merkmal der italienischen Arbeiter in Deutschland war ihr
enger Zusammenhalt, Campanilismus genannt: Oft zogen mehrere Männer
eines Dorfes oder eines Tals in einer geschlossenen Gruppe zur Arbeit
nach Deutschland. Arbeitgeber mit guten Verdienstmöglichkeiten wurden
untereinander weiterempfohlen. Die Italiener waren in der Regel Saisonarbeiter: Sie blieben vom Frühjahr bis zum Winteranfang in Deutschland und kehrten im Winter angesichts hoher Lebenshaltungskosten und schlechter Witterung nach Italien zurück. Manche Baustelle musste wegen der Rückwanderung der Italiener im Winter sogar unverhofft pausieren: |
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„[...] Die Gründe, die uns [zur Einstellung
der Bauarbeiten] veranlassen, sind in erster Linie der Weggang unserer
italienischen Arbeiter, die sich durch nichts mehr halten lassen, und
wollen auch unsere deutschen Maurer wegen des kalten Wetters die Arbeit
auf dem Goldberge nicht mehr aufnehmen. [...]“ Schreiben der Fa. Liebold & Co an den Stadtbaurat Lamprecht wegen Einstellung der Bauarbeiten am Bismarckdenkmal auf dem Hagener Goldberg, 3. Dezember 1900. Stadtarchiv Hagen 6434 |
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Dietmar Osses, Bochum 2005
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