Mitte 1956 warben die Zechen im Ruhrgebiet die ersten Italiener für die Arbeit unter Tage an. Allerdings wurde diese Anwerbung im August jäh gestoppt durch ein Grubenunglück im belgischen Marcinelle. Bei dem Unglück kamen 136 Italiener ums Leben. In Italien wurden die Nachrichten aus Belgien mit großem Entsetzen aufgenommen. Die italienische Regierung stoppte sofort die Vermittlung von Italienern in den gesamten europäischen Bergbau, damit auch nach Deutschland. Erst nach einer genauen Untersuchung der Sicherheitsvorkehrungen sollten wieder Italiener in ausländischen Gruben arbeiten dürfen: | ||
„[...] Die Italienische Regierung wird die Einreiseerlaubnis
erst geben, wenn von den deutschen Bergbehörden Bedingungen festgelegt
sind, die eine ausreichende Sicherheit für die italienischen Arbeiter
bieten. Das Oberbergamt hat für den 29. März einen Termin zur Erörterung
dieser Frage mit dem Unternehmensverband und der I.G. Bergbau angesetzt.
Wenn hier Bedingungen erarbeitet werden, die sowohl für uns als auch für
die Italienische Regierung tragbar sind, kann die Anwerbung durchgeführt
werden. [...]“ Antwort auf Anfrage des Konsul Bauer aus San Marino am 16. März 1956 Bergbau-Archiv Bochum, 8-383 |
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Im Mai 1957 besichtigten Vertreter des italienischen Außen- und des Arbeitsministeriums, der italienischen Gewerkschaften zusammen mit Bergbausachverständigen die deutschen Zechen. | ||
„[...] Bevor eine Anwerbung für Walsum erfolgen konnte,
überzeugte sich erst eine italienische Studienkommission von den Sicherheitsbedingungen
in den Schachtanlagen am Rhein. Offenbar war der Eindruck günstig. Die
Walsumer erhielten als erste Gesellschaft nach Abschluß des zwischenstaatlichen
Vertrages die Erlaubnis zur Anwerbung. Die ersten 200 Arbeiter sind bereits
da. Sie kommen aus den Abruzzen und Sardinien. [...]“ Italiener wohnen am Rhein, Frankfurter Rundschau 11.10.1957 |
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Erfahrungen im Bergbau | ||
Die neuen Bergleute aus Italien arbeiteten erst einmal sechs Wochen über Tage. Deutsche Ausbilder zeigten ihnen die wichtigsten Handgriffe für die Arbeit unter Tage. Vor allem aber sollten sie die deutsche Sprache lernen. Sprachkurse waren für die Arbeit unter Tage gesetzlich vorgeschrieben, um Gefahrensituationen möglichst zu vermeiden. Die Italiener bekamen zunächst sechs Wochen lang täglich zwei Stunden Deutschunterricht, um die wichtigsten Bergbaubegriffe und Arbeitsanweisungen zu lernen. Erst nach einer Sprachprüfung durften sie das erste Mal unter Tage arbeiten. | ||
Unter Tage arbeiteten die Italiener zunächst als Schlepper im Schichtlohn. Nach drei Monaten kamen sie ins Gedinge. Viele machten nach ein oder zwei Jahren eine Ausbildung zum Hauer und hatten damit eine Facharbeiterqualifikation. Meistens arbeiteten Deutsche und Italiener zusammen in gemischten Gruppen. Bei der harten Arbeit – häufig in Flözen, die nur 50 cm hoch waren – war es wichtig, dass sich alle aufeinander verlassen konnten und das zwischenmenschliche Verhältnis stimmte. | ||
„[...] Für unsere Belegschaft ergibt sich mit der Einstellung
der italienischen Neubergleute die Aufgabe, in ihnen nicht nur Arbeitskräfte
zu sehen, sondern ihnen auch menschlich zu begegnen. Wenn wir uns in ihre
Lage versetzen und bedenken, was es heißt, die Heimat zu verlassen, um
in einem fremden Land das tägliche Brot zu verdienen, dann erwächst für
uns daraus eine große Verpflichtung. Vielen aus unseren Reihen ist es
schließlich nach dem Kriege ähnlich ergangen; auch sie haben Haus und
Hof verlassen und sich bei uns am Niederrhein eine neue Existenz aufbauen
müssen. Betrachten wir es darum nicht nur als eine Menschen-, sondern
auch als eine Christenpflicht, sich der italienischen Belegschaftsmitglieder
mit besonderer Liebe anzunehmen. Kameradschaft ist immer eine der vornehmsten
Tugenden des Bergmanns gewesen. Auch aus dieser Verpflichtung heraus wollen
wir unsere italienischen Kameraden vorbehaltlos in unsere Gemeinschaft
aufnehmen. [...]“ „Der Kumpel“. Werkszeitung der Bergwerksgesellschaft Walsum, 23.9.1957 Bundesarchiv Koblenz, Akte B 119 Nr. 3054/1 |
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Der „richtige“ Umgang mit den italienischen Arbeitnehmern bzw. Kollegen war Thema unzähliger verbands- und betriebsinterner Rundschreiben und Anweisungen an die Belegschaften. Auch in der Öffentlichkeit wurde kontrovers diskutiert, vor allem über die richtige „Bezeichnung“ der angeworbenen Arbeiter. | ||
Fremdarbeiter – Gastarbeiter – ausländischer Arbeitnehmer | ||
Immer wieder gab es verschiedene Begrifflichkeiten für die italienischen Arbeiter in Deutschland. Die Bezeichnung „Fremdarbeiter“ war im öffentlichen Sprachgebrauch der Bundesrepublik noch lange üblich. Dieser Begriff war jedoch untrennbar mit der NS-Rassenideologie und dem Einsatz von Ausländern im Zweiten Weltkrieg verbunden. Ebenso erinnerten die Begriffe „Arbeitskameraden“ und „Arbeitergäste“ an das faschistische Bündnis der 1930er Jahre. In den römischen Verträgen von 1956 war von „Wanderarbeitern“ die Rede. Damit waren gemeint: | ||
„Arbeiter, die innerhalb des Gemeinsamen Marktes als Angehörige
eines Gliedstaates der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einer Beschäftigung
nachgehen. Das Ziel der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist eine
freie Zu- und Abwanderung und das Recht zur freien Niederlassung im Bereich
der Wirtschaftsgemeinschaft.“ Werner Mehlem: Die Stellung des ausländischen Arbeiters in unserer Gesellschaft, Juli 1963 Archiv des Deutschen Caritasverbandes e. V., Signatur 380.21.065 Fasz.01 |
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Diese theoretische Diskussion und das verkrampfte Bemühen um politische Korrektheit hatte jedoch wenig mit der Lebenswirklichkeit der Italiener in Deutschland zu tun. | ||
„[...] Man hat kurzfristige Arbeitsverträge abgeschlossen.
Man hat den empfindlichen Kreisen der Öffentlichkeit zu verstehen gegeben,
es handle sich um eine vorübergehende Angelegenheit; man hat den Abgabeländern
die zweifelhaften Vorteile der Rückkehr emanzipierter und industrieerfahrener
Landesgenossen vorschweben lassen und man hat nicht zuletzt das schöne
Wort „Gastarbeiter“ geprägt. Jetzt bemüht man sich, diesen harmlosen Ausdruck,
der die ganze Verlegenheit und Unsicherheit in sich birgt aber schließlich
und endlich von sich aus keinen Schaden stiftet, zu verpönen, als ob man
mit diesem lexikalischen Sieg die Wirklichkeit meistern könnte. [...]“
Giacomo Maturi: Soziale und betriebliche Fluktuation der ausländischen Arbeitnehmer, 20. April 1966, Seite 2 DoMiT-Archiv Köln |
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Gewerkschaftsarbeit | ||
Auch die Gewerkschaften bemühten sich um eine korrekte Sprachregelung für ihre Arbeit. | ||
„[...] Kollege Stephan schlägt vor, von dem Begriff „Gastarbeiter“
abzugehen, und von ausländischen Kollegen zu sprechen. Wir sollten uns
überlegen, von dem Wort „Betreuungsarbeit“ abzugehen und zu sagen „fremdsprachliche
Gewerkschaftsarbeit“. [...]“ Protokoll über die Sitzung des Arbeitskreises „Betreuung ausländischer Arbeitnehmer“ vom 24.2.1965 in Düsseldorf [DGB] Archiv für Soziale Bewegungen im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets Bochum, Akten der IGBE 102 |
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Die anfängliche Ablehnung einer Anwerbung von Arbeitern in Italien seitens der deutschen Gewerkschaften wich schnell einem solidarischen Pragmatismus. DGB und IGBE warben intensiv um Mitglieder unter der ausländischen Belegschaft und suchten die verstärkte Zusammenarbeit mit italienischen Gewerkschaften. Unterstützung und Schutz im Kampf gegen Ausbeutung und schlechte Wohn- und Arbeitsverhältnisse sollten die italienischen Kollegen zum Beitritt bewegen. Bergleute waren traditionell stark organisiert. Diesen Einfluss wollte sich die IGBE auch unter den neuen Kollegen bewahren | ||
„[...] Es müssen deshalb noch mehr Anstrengungen als bisher
unternommen werden, um die ausländischen Arbeitnehmer für unsere Gewerkschaft
zu gewinnen. Da eine immer größere Anzahl von Ausländern im Bergbau beschäftigt
wird, wirken sich unorganisierte ausländische Arbeiter auch immer stärker
auf unser Organisationsverhältnis aus. Es ist uns bisher bereits gelungen,
knapp 25 % der ausländischen Arbeiter im Bergbau zu organisieren.“ IGBE-Hauptverwaltung, Abt. Organisation: Beratungsunterlagen für die Sitzung der Kommission für Organisationsfragen am 19. März 1963 Archiv für Soziale Bewegungen im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets Bochum, Akten der IGBE 19097 |
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Wenn die italienischen Arbeiter ihre Beitrittserklärung unterzeichnet hatten, dann trat für die deutschen Gewerkschaften häufig ein anderes Problemfeld zu Tage: | ||
„[...] Aufgrund der Erfahrungen in ihrem Heimatland haben
die italienischen Gastarbeiter von allen Ausländergruppen die klarsten
Vorstellungen über die Gewerkschaftsarbeit und ihren Wert. Sie sind gewerkschaftlich
verhältnismäßig leicht ansprechbar und bejahen die Organisation. Aber
nach der Aufnahme sträuben sich gerade die italienischen Arbeiter sehr
stark gegen die Beitragszahlung. Italiener sind die Ausländergruppe, die
nach unseren Beobachtungen am zielstrebigsten und intensivsten spart.
Sie wollen nicht nur gut verdienen, um auch während ihres Aufenthaltes
in Deutschland einmal gut zu leben, sondern sie wollen mit möglichst viel
erspartem Geld nach Ablauf ihres Beschäftigungsvertrages wieder in ihre
Heimat zurück. Trotz der vorhandenen Aufklärung über die Gewerkschaften
und der Einsicht in die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Arbeit besteht
gerade bei dieser Gruppe in vielen Fällen keinerlei Zahlungsbereitschaft
für den Gewerkschaftsbeitrag. Anders ist es natürlich bei den Italienern,
die mit der Absicht in die Bundesrepublik kommen, später einmal ihre Familie
nachzuholen. Diese Italiener zeigen sich auf jeden Fall zahlungswillig.“
Schreiben an den DGB-Bundesvorstand betr. Werbeerfahrungen und -erfolge bei den ausländischen Gastarbeitern, 17.5.1962 Archiv für Soziale Bewegungen im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets Bochum, Akten der IGBE 19096 |
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Anke Asfur, Aachen 2005 Literatur zum Thema: |